Keep it unreal!
Es ist Samstag der 15. September 2007. Ein roter Toyota Corolla Liftback 1,4 mit 88 PS - der seine besten Tage anfangs der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts hatte - biegt langsam von einer Landstraße aus Richtung Wolkramshausen kommend nach links auf einen stückweise ausgefahrenen Feldweg ein. Vor ihm und seiner Besatzung – eine Frau und ein Mann im besten Alter – zeigen sich die Umrisse einer alten Industrieanlage. Hier entlang transportierten früher die Buskolonen der Bergwerksgesellschaft die aus der Umgebung stammenden Minenarbeiter zu den in die Stollen führenden Förderanlagen des transparent bis rotbraunen Goldes. Kali wird hier schon lange nicht mehr gefördert. Davon zeugen nicht nur die Birken, die auf den Dächern der Industrieruinen ein kümmerliches Dasein fristen. Ein unwirklicher Ort - der nachts eine schaurige, tagsüber eine trostlose Aura versprüht.
Dennoch ist das Fahrzeug nicht allein. Heute lockt nicht das rotbraune Gold aus der Erde Kolonnen von humanoiden Transportmitteln auf das Schachtgelände, sondern schwarzes Gold aus den Klanglaboren der Gegenwart. Dieses wird nicht von Angestellten einer Bergwerksgesellschaft, sondern von engagierten Ehrenamtlichen eines Vereins gefördert.
Das Prinzip ist Nachhaltigkeit. Der Wolke zwo4 e.V. beutet keine Ressourcen aus. Vielmehr ist er darauf bedacht, die geistigen Rohstoffvorkommen der elektronischen Musik zu fördern und die klangvollen Früchte in einem größeren Kreise gemeinschaftlich zu genießen. Als Vereinsheim dient das letzte erhaltene Gebäude im alten Industriekomplex, welches ebenfalls Platz für die Wirkungsstätte eines Kunstschmieds bietet.
Das Zentrum des Vereinsheims bildet ein geräumiger Floor. Vom Eingang links befindet sich der Barbereich mit einigen Sofas, die zum Verweilen einladen. Vorn breitet sich die von Lautsprechern umrahmte Tanzfläche aus. Dahinter ist ebenerdig das DJ Pult aufgebaut. Es ähnelt eher einem großen Tisch als einem Pult und ermöglicht so einen direkten Kontakt zu den Künstlern. An der Decke schwebt ein mit Fallschirmen modellierter Wolkenhimmel, der mittels Spots in verschiedene Farben getaucht werden kann. An den Wänden im Sitzbereich hängen kunstvolle Emailletafeln. Die rechte Wand wird von einer überdimensionalen Musikkassette dominiert. Rings um das DJ-Pult sorgen zahlreiche Fliegenpilzfiguren in unterschiedlicher Größe für ein surreales Ambiente.
Es ist zum Tanzfest geladen. Die abendlich Barden der Schallplattenunterhaltung sind Red Robin, Janina, David Kohlmann und Cortex Delay. Noch ist die Nacht jung. Noch ist genügend Zeit für einen Drink und anregende Gespräche. Cortex Delay und David Kohlmann sorgen für die musikalische Untermalung, der VJ für die passenden Bilder.
Man merkt, dass das Visuelle perfektioniert wird. Die gut bestückte Lichtanlage wird über den PC gesteuert und mit den Videoprojektionen abgestimmt. Diese reichen von amöben Strukturen, über urbane Hochhauslandschaften bis hin zu politischen Statements für den Weltfrieden. „No war in iraq“ fordert ein Schriftzug. Im selben Atemzug wird das Geschehen am DJ Pult eingeblendet – umrahmt von dem Abbild eines nostalgischen Fernsehapparats.
Mittlerweile füllt sich die Tanzfläche und ein zaghafter Reigen entwickelt sich. Stück um Stück wächst er an. Das Set von Cortex und David überzeugt. Auch wegen des gelungenen Einsatzes des Kaoss Pads. Der Floor hat sich mittlerweile sehr gut gefüllt und die Stimmung wird zusehends ausgelassener. In der Primetime folgte der Wechsel zu Janina.
Die aus Kairo stammende Wahlberlinerin hat ihre Residenz sonst in der Berliner Bar der Visionäre. Heute lässt sie besonders die Herzen der weiblichen Gäste höher schlagen. Ihr stringentes Minimal-Set findet schnell eine bewegte Anhängerschaft. Von einer euphorischen Stimmung getragen vergehen die nächsten zwei Stunden wie im Fluge. Ein überwiegend in warmen Naturfarben gehaltenes Licht, gepaart mit den Stoffwolken, ergibt eine surreale Märchenwelt. Das rotbraune Licht verwandelt die Wolken in eine traumähnliche Höhlenwelt. Vorn neben den DJs wachsen fett grinsende Fliegenpilze. Die Symbiose aus Musik, Licht und Bild spricht alle Sinne an.
Die Höhlendecke tut sich auf und verwandelt sich in einen morgenroten Himmel. Der Rote Baron fliegt herein. Red Robin der Überflieger des Abends übernimmt das Ruder und geleitet uns in die Morgenstunden. Die Atmosphäre ist dabei sehr familiär und ausgelassen. Janina, die zuvor noch hinterm Deck stand, hat sich unter die Tanzenden gemischt, ebenso wie Cortex Delay und David. Gemeinsam wird gefeiert, getanzt, gejubelt. Irgendwann klinkt sich David Kohlmann mit in das Set ein. Im Ping Pong Modus wird die Stimmung noch einmal kräftig aufgeheizt. Wieder kommt das Kaoss Pad zum Einsatz. Funktionell auf die Tanzenden gerichtet verfehlt es nicht seine Wirkung. Mir persönlich war es aber dann irgendwann etwas zu viel des Guten. Vielleicht sollte man in Zukunft den Einsatz etwas dezenter oder aber variabler gestalten.
Im Morgengrauen heißt es Aufbrechen. Es war eine schöne Nacht. Dank an den Wolke zwo4 e.V.!
Lineup:
Red Robin (Berlin/Bar 25/Trapez Ltd)
Janina (Kairo/Berlin/Club der visionäre)
David Kohlmann (Enliven Music)
Cortex Delay (Wolke Zwo4)
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