Dienstag, 30. August 2011

Erobique @ Alter Kalischacht Wolkramshausen (21.02.09)

Erlebnisse kreieren

Wer schon einige Jahre regelmäßig seine Runden im Rave-Zirkus dreht, der mag vielleicht zustimmen. Es gibt nicht viele Veranstaltungen, an deren Details man sich noch Jahre später erinnern kann. Selbst wenn es aufregend war und die Nacht sowie der darauf folgende Morgen im Endorphinrausch tanzend, zeitgerafft an einem vorbeiflogen, bleiben oft nur schematische, stetig verblassende Erinnerungen. Clubmusik und ihre Darbietungsformen sind überwiegend funktional auf das Gesamterlebnis „Rave“ zugeschnitten. Auch wenn jede Veranstaltung und jeder einzelne Act etwas Spezielles haben, so sind sie in ihrer jeweiligen Gesamtheit doch sehr ähnlich. Im dauerhaften Gedächtnis bleibt aber nur das Besondere. Das, was sich außerordentlich positiv oder negativ aus dem Ravekonsens hervorhebt und das Ereignis für den Teilnehmer zum Erlebnis werden lässt. Hält man sich dieses vor Augen so kann man Eines mit Gewissheit sagen: Der Liveauftritt von Erobique am 21. Februar 2009 im Alten Kalischacht von Wolkramshausen wird sich bei vielen der Anwesenden unwiderruflich im Gedächtnis eingebrannt haben.


Surreales Wolkenreich mit konservativer Wohnstube

Am Rande des nordthüringischem Örtchens Wolkramshausen, in Mitten der verfallenen, altindustriellen Bauten des ehemaligen Kalischachtes, befindet sich im letzten noch erhaltenen Gebäude das Domizil des Wolke zwo4 e.V.. Der Verein fördert von dort aus schon seit einigen Jahren erfolgreich elektronische Tanzmusik und die damit verbundene Jugendkultur in der Region. So wundert es kaum, dass das Vereinsheim einen liebevoll gestalteten und mit allen Raffinessen ausgestatteten Klub beherbergt und in diesen regelmäßig zu öffentlichen Tanzveranstaltungen einlädt. Das Markenzeichen des Klubs ist ein unter der Decke aus weißen Fallschirmen modulierter Wolkenhimmel, der durch dezente Beleuchtung in verschiedene Farben getaucht werden kann und sich mit Hilfe von Discokugeln in eine surreale Sternenwelt verwandeln lässt. Auch wenn diese imposante Konstruktion den Erstbesucher wohl öfter nach oben als zu den Seiten schauen lässt, so gibt es auch dort mancherlei zu entdecken. Einige Kunstwerke, alte Plakate sowie eine hinter dem ebenerdigen DJ Pult installierte und mit Live-Visuals bestrahlte Leinwand lockern die dunklen Mauern auf. Im linken Flügel des Floors befindet sich ein Barbereich mit ein paar Sofas als bequeme Ruhezone. Für Liveauftritte verfügt der Klub über eine gesonderte Bühne, die sich, vom DJ-Pult aus betrachtet, auf der gegenüberliegenden Seite der Tanzfläche befindet und für den jeweiligen Acts passend thematisch gestaltet wird. An diesem Abend war das dortige Szenenbild recht konservativ eingerichtet und erinnerte ein wenig an die Arbeitsstätte eines typischen Alleinunterhalters der mit der musikalischen Untermalung von Familienfeiern in bürgerlichen Gasthäusern seinen Lebensunterhalt bestreitet. Die Bühne wurde rechts und links durch Ständerwände eingegrenzt. Eine schwarz-weiße Wellentapete und eine Kuckucksuhr schafften Gemütlichkeit. Auf der linken Seite standen drei Polsterstühle um einen Tisch. Dahinter eine Kommode. Auf ihr ein altes, noch aus Holz gefertigtes Radio und allerlei Einrichtungsgegenstände, die der eine oder andere sicher noch aus der Wohnung seiner (Ur-)Großeltern kennt. Selbst ein Stiefelknecht fand sich unter der Ausstattung. Rechts neben dem nostalgischen Szenenbild stand das moderne Equipment von Carsten Meyer, der als Erobique mit Livemusik für Unterhaltung sorgen sollte. Sein Roland Keyboard und das Mikrophon waren in Richtung Tanzfläche ausgerichtet. Laptop, Controller und Bassmaschine lagen im 90° Winkel zum Keyboard auf einen Tisch fast schon versteckt. Alles sah so aus, als könnte jeden Moment ein Herr im Anzug auf die Bühne treten, Keyboard spielen und das Brautpaar zur Melodie leicht säuselnd zum ersten Tanz auffordern. Die Hochzeitsgäste würden dieser Bitte klatschend Nachdruck verleihen, der Bräutigam würde sich ein wenig zieren und dann Hand in Hand mit der Braut in die Mitte des Saals schreiten. Noch war es nicht soweit.

Drehungen um 180° und kein Ende in Sicht

Musikalisch eingestimmt wurden die Gäste an dem Abend von David Kohlmann (Enliven Music). Sein DJ-Set bewegte sich vornehmlich in minimaltechnoiden und housigen Sphären. Seine teils reduzierte, teils jazzige, überwiegend deepe Musikauswahl war äußerst angenehm anzuhören und setzte mit gehauchten französischen Vokals in einigen der Tracks Akzente. Allerdings war es kein Set zu dem man unmittelbar mit Zappeln anfangen möchte, sondern in das man langsam eintauchen muss. Dementsprechend verzögert entwickelte sich auch die Stimmung auf dem Floor, welche sich am ehesten mit beobachtend bis vorsichtig im Takt schwingend charakterisieren lässt.

Gegen zwei Uhr hieß es die Aufmerksamkeit um 180° drehen in Richtung des Entertainers, der es sich gerade hinter seinem Keyboard bequem gemacht hatte. Optisch erfüllte Erobique genau angesprochenen Stereotyp eines Alleinunterhalters. Etwas korpulent, lederne Aktentasche, helle Anzugshose, dunkle Krawatte und Weste - insgesamt eine sehr gemütliche Erscheinung. Das Keyboard erklingt dazu ein Lied über St. Pauli. Mit geschlossenen Augen konnte man eine Reise in eine gemütliche Kneipe im Hamburger Hafenviertel machen. Das war der Auftakt für eine mehrstündige Darbietung in der Ernsthaftigkeit und Humor, Freude und Entrüstung, bürgerliche Gemütlichkeit und ausgelassener Rave, Spaß und Desaster ineinander verschwammen und mehrmals die Frage aufkommen ließen, was davon nun Show und was davon Realität ist. Treibende elektronische Beats wurden abrupt durch Ansagen unterbrochen. Meist in der Form eines mit Keyboard untermaltem, improvisiert wirkendem, schiefem Gesang, der inhaltlich die miese Leistung des Musikers persiflierte. Dann Neustart und das Versprechen es nun besser machen zu wollen. Um mal ein Beispiel zu nennen, hier die sinngemäße Widergabe der wohl krassesten Unterbrechung:

„Sowas Unprofessionelles wie hier habe ich noch nicht erlebt. Hier gibt’s ja noch nicht mal richtiges Licht auf der Tanzfläche. Jetzt macht doch endlich mal die Diskokugeln an, die Leute sollen Tanzen! So geht das nicht!“ Und dann schief singend: „Aber all das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass ich ein schlechter Musiker bin, der Euch nicht unterhalten kann. Es tut mir Leid, dass ich Euch den Abend verdorben habe. Ich spiel jetzt noch ein paar Minuten weil es so in meinem Vertrag steht und dann seid ihr mich endlich los.“ Dann Switch zu treibender elektronischer Musik.

Derartige Kommentare, der ständige Wechsel zwischen schief gesungenen, semiprofessionell wirkenden Keyboardliedern und treibenden elektronischen Sounds in Trackstrukturen sorgten für allerlei Verwirrung unter den Gästen. Das auf und ab zwischen Entrüstung und Ekstase gipfelte in subjektiven Einschätzungen des vor ihnen stehenden Künstlers zwischen genial bis vollkommen daneben. Schwere Kost für Leute, die doch nur dahin gefahren sind, um ein bisschen zu Tanzen und der da vorn macht immer alles falsch. „Man, mach den Beat wieder an!“, war da beispielsweise von einem etwas erbosten Gast zu hören. Bis zum geplanten Ende schien der Funke noch nicht richtig übergesprungen zu sein. Der Applaus war für einen Liveauftritt vergleichsweise verhalten. Aber es erklangen auch einige Zugaberufe.

Diese Bitte wurde gewährt. Neben mir sagte jemand mit wenig Begeisterung: „Och nö. Ich will Feiern.“ Dass er ein paar Minuten später ausgelassen Tanzen wird, ahnte er noch nicht. Zunächst fragte Erobique ob er Lambada spielen solle. Das wäre so simpel, dass es auch hier das Publikum verstehen würde. Es hätte ja nur drei Akorde. Er zückte seine Melodica und blies die Melodie ins Mikro. Beats setzte ein. Es folgten Songs, Improvisationen, Witze, unbeschwerte housige Tanzmusik, ein Track der sich um die lokale Vorliebe für Vodka-Cola drehte, Outros, tosender Applaus und euphorische Zugaberufe, erneute Intros.

Mittlerweile war der Funke auch auf den letzten Anwesenden übergesprungen und keiner im Floor wollte den Entertainer ziehen lassen. Fast so wie auf einer privaten Feier, wo mit dem Verlassen des Alleinunterhalters unweigerlich die Veranstaltung ihr Ende finden würde und nur noch ausgiebiges Flehen sowie gezielte Bestechungsversuche den Abend zu retten vermögen. Der entscheidende Unterschied war aber, dass nach diesem Auftritt die Fete nicht zu Ende wäre und der nachfolgende DJ mittlerweile gegenüber am DJ-Pult seit fast einer Stunde auf seinen Einsatz wartete. Das alles zusammen zog dann sehr eigenartige Blüten mit sich. Weder der Hinweis des Künstler auf seine daheim wartende Frau noch das Schmackhaftmachen des nach ihm folgenden DJs wollte das Publikum beruhigen. Letzteres ist definitiv eine Beschreibung wert. Sinngemäß sagte Erobique folgendes: „Kennt ihr Techno? Dazu kann man ganz schön tanzen und da drüben wartet ein DJ auf Euch.“ Ein Spot geht an und zeigt den DJ auf der gegenüberliegenden Seite im Scheinwerferlicht. „Der DJ hat ganz lange geübt damit er die Musik perfekt ineinander mischen kann und ihr nicht merkt wann ein neues Lied anfängt. Der hat ganz tolle Schallplatten die ich jetzt gern hören möchte.“

Abgesehen von Gelächter und Applaus verfehlte der Hinweis sein Ziel und feuerte nur die Zugaberufe an. Letztendlich wusste sich Erobique nur noch mit einem fließenden Übergang aus der Affaire zu ziehen. Er spielte einen Track ein und verließ die Bühne. Das dadurch offen gewordenen Mikro nutzte alsbald ein Pärchen, um gemeinsam singend eine weitere Zugabe zu erbeten. Wenn es am schönsten Ist, soll man bekanntlich aufhören. Das war der perfekte Moment und als peedge „remember love“ von Nôze einspielte drehte sich der Ravezirkus wieder um 180° in seine gewohnte Bahn. In Erinnerung bleibt ein wahnsinniges unkonventionelles Erlebnis. Vielen Dank!

Line Up:
Erobique
David Kohlmann
Peedge
Cortex Delay

Infos:

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen